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Interview – TCE Therapie-Centrum
für Essstörungen

„Angehörige sollten ruhig und ermutigend begleiten können, dafür müssen sie gut aufsich selbst achten“
– ein Interview mit Dr. Karin Lachenmeir, Leiterin des Therapie-Centrums für Essstörungen in München.
Die notwendigen Maßnahmen zur Genesung einer Essstörung hängen stark vom Alter der betroffenen Person ab. Auf diese altersspezifischen Bedürfnisse ist der Ablauf eines Klinikaufenthalts konkret ausgerichtet. Das TCE teilt die Patient:innen entsprechend in die Altersgruppen 12-15 Jahre und 16-25 Jahre ein. Die Einbindung und Rolle der Angehörigen wird auf gleiche Weise differenziert betrachtet. Frau Dr. Lachenmeir betont: „Angehörige müssen Ruhe bewahren und sich um sich selbst sorgen, denn der Weg aus der Essstörung ist ein Langstreckenlauf“. Betroffene und Angehörige wissen häufig nicht, wie es nach der Diagnose Essstörung weitergehen soll. Sollte diejenige/derjenige eine ambulante Therapie machen, ist ein stationärer Klinikaufenthalt ratsam oder gibt es weitere Alternativen? Oft besteht eine gewisse Unsicherheit bei der Behandlungswahl, da die Beteiligten nicht wissen, was bei den jeweiligen Möglichkeiten auf sie zukäme. Wir möchten in Austausch mit Fachkliniken und -Zentren verschiedene Therapiemodelle aufzeigen und so für mehr Klarheit sorgen.

Das Therapie-Centrum für Essstörungen in München (TCE)

Das Therapie-Centrum für Essstörungen in München (TCE) verfolgt einen einzigartigen Ansatz, der auf der Kombination aus Tagesklinik und Therapeutischer Wohngruppe basiert. Seit über 30 Jahren werden hier bereits Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Weg in ein Leben ohne Essstörung unterstützt. Das Behandlungsspektrum umfasst Anorexie, Bulimie und Binge-Eating-Störungen. Als Teil der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums Dritter Orden in München-Nymphenburg folgt die Therapie hier den neuesten klinischen Standards zur Behandlung von Essstörungen. Das TCE fokussiert dabei eine hohe Alltagsnähe und den Einbezug der Angehörigen in den Therapieprozess. Durch eine integrierte Stabilisierungsphase und Nachbetreuungsangebote im Anschluss an die Therapiezeit handelt es sich um ein besonders nachhaltiges Konzept. Im Interview erläuterte die Klinikleiterin Frau Dr. Lachenmeir den Ablauf eines planmäßigen Klinikaufenthalts im Therapie-Centrum. Sie betont dabei zunächst die grundlegende Unterscheidung der Behandlung der Betroffenen im Alter von 12-15 Jahren und 16-25 Jahren.

Betroffene 12-15 Jahre: tagklinische Intervalltherapie + Übernachtungsangebot

Seinen jüngeren Patient:innen bietet das TCE eine tagklinische Therapie mit Übernachtungsangebot. Das bedeutet die Betroffenen wohnen während der Behandlungszeit jeweils von Montag bis Freitag in einer Wohngruppe der Klinik, in der sie von Gleichaltrigen umgeben sind. Die Wochenenden verbringen sie in ihren Familien. Die Therapie verläuft dabei in Intervallen, die aus jeweils 8-9 Wochen Behandlung am Stück bestehen, auf die eine Blockpause von 1-3 Wochen folgt. In diesen Pausenphasen wohnen die Patient:innen bei ihren Familien und haben die Möglichkeit ihren Schulalltag zu erproben. Aus ihren Erfahrungen benötigten die meisten Patient:innen mindestens zwei solcher Intervalle, oft jedoch auch mehr, so Frau Dr. Lachenmeir.

Betroffene 16-25 Jahre: tagklinische Therapie + therapeutische Wohngruppe

Die älteren Patient:innen wiederum wohnen während der gesamten Behandlungsdauer in einer therapeutischen Wohngruppe und nehmen von hier aus an den tagklinischen Therapieangeboten teil. Ihr Therapiezeitraum ist zudem mit ca. 8 Monaten länger angesetzt als bei den Jüngeren und beinhaltet zwei Hauptphasen. Während der initialen Intensivphase erwarte die Betroffenen ein entsprechend intensives tagklinisches Therapieprogramm, führt Frau Dr. Lachenmeir aus, in der nachgelagerten Stabilisierungsphase wohnten sie zwar noch in derWohngruppe, nähmen aber an einem reduziertem Therapieprogramm teil. In dieser Zeit gingen die Patient:innen wie gewohnt zur Schule, Universität, Ausbildung oder Arbeit und hätten so die Möglichkeit zu üben, das Erlernte im Alltag anzuwenden. Ziel dieses Ansatzes sei es die Betroffenen zu befähigen zukünftig auch selbstständig den Weg der Genesung weitergehen zu können.

Konkrete Ziele des Aufenthalts

Mit dem Klinikaufenthalt verfolgen die Fachkräfte des TCE das Ziel bei den Patient:innen eine selbstständige, gesunde und regelmäßige Ernährung wieder herzustellen. Erreicht werden solle neben einem gesunden Bewegungsverhalten außerdem die Gewichtsrehabilitation beziehungsweise die Set-Point-Regulation. Diese gehe von einem individuell dem Körper innewohnenden Gewicht aus, das der Körper von alleine anstrebt, erörtert Frau Dr. Lachenmeir. Dieses Ziel sei oft mit gewichtsbezogenen Ängsten verbunden, die in diesem Zuge vermindert werden müssten. Auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der eigenenKörperwahrnehmung sei wichtig. So betont Frau Dr. Lachenmeir: „Die Patient:innen sollen lernen, ihren Körper wieder als Verbündeten wahrzunehmen und weniger als Feind, den sie bekämpfen oder kontrollieren müssen.“Es gelte die Wahrnehmungsverzerrungen Stück für Stück abzubauen und eine liebevolle Selbstfürsorge zu etablieren. Ein weiteres Ziel der Behandlung im TCE ist es, herauszufinden, was der Essstörung zugrunde liegt und sich den entsprechenden Ursachen und Hintergründen zu widmen. Hierfür würden die Patient:innen beispielsweise dazu ermutigt, sich mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen und diese ausdrücken, zu benennen sowie zu lernen damit umzugehen. Im Rahmen der sozialen Fertigkeiten würde zudem mit dem Patient:innen daran gearbeitet für ihre Wünsche und Bedürfnisse zu sorgen, ihre eigene Meinung zu vertreten oder mit Belastung umgehen zu können.

Eltern jüngerer Patient:innen: fürsorgende, anleitende Funktion

Dadurch, dass die jüngeren Betroffenen die Wochenenden bei ihren Familien verbringen, sei es elementar, dass die Eltern in die Therapie einbezogen werden, so die Klinikleiterin. Die Eltern müssten gecoacht und darauf vorbereitet werden ihre Kinder gut unterstützen zu können. So findet im TCE für die 12- bis 15-Jährigen freitags sowohl eine Wochenendplanung in Anwesenheit eines Elternteils statt, als auch ein anschließendes Telefonat nach dem Wochenende. In dem vorgelagerten Termin mit der Ernährungs- und der Familientherapeutin würde genau besprochen, was es zu essen gebe und welche Aktivitäten in welchem Ausmaß möglich seien, erläutert Frau Dr. Lachenmeir. Die Eltern erhielten zudem eine konkrete Anleitung, wie sie in Belastungssituationen konstruktiv reagieren könnten. In den 14-tägig stattfindenden Familiengesprächen stünden die Erarbeitung eines individuellen Erklärungsmodells sowie die familiären Interaktionen im Vordergrund. Die Eltern würden darin unterstützt, ihre Kinder auf dem Genesungsweg gut zu begleiten. Diesem Ziel diene auch die wöchentlich stattfindende Elterngruppe, an der beide Elternteile teilnähmen. In der nachbetreuenden Phase finden zudem in regelmäßigen Abständen noch Gespräche mit den Eltern statt, in denen unter anderem konkrete Vereinbarungen mit den Patient:innen und Eltern getroffen werden. Es würden beispielsweise Verpflichtungen getroffen, sich an ein bestimmtes Gewicht und einen gewissen Bewegungsrahmen zu halten, erörtert Frau Dr. Lachenmeir. Ergeben sich Probleme, weil Vereinbarungen nicht eingehalten werden, würden diese in den folgenden Nachbesprechungsterminen thematisiert. Die Eltern jüngerer Patient:innen sieht die Klinikleiterin allgemein in verstärkt anleitender und fürsorgender Funktion. Sie sollten im Blick behalten, ob die/der Betroffene die erlernte Essstruktur einhält und sich ihr/sein Gewicht stabilisiert. Auch ob sich das Ausmaß der Bewegung im Rahmenhalte, sollte beobachtet werden. Die Familiengespräche bei den 16- bis 17-Jährigen fänden ebenso wie die Elterngruppe einmal im Monat statt, die Teilnahme an der Elterngruppe sei optional. Außerdem fände ein für die Eltern verbindlicher ganztägiger Angehörigenworkshop statt.

Eltern älterer Patient:innen: ermutigende, wohlwollende Funktion

Während bei minderjährigen Patient:innen die Eltern fest in die Therapie integriert sind, können volljährige Patient:innen die Kontaktpersonen, die in den Therapieprozess eingebunden werden sollen, frei wählen. So würden manchmal auch die/der beste Freund:in oder die/der Partner:in der Patient:in zum ganztägigen Angehörigen-Workshop eingeladen, so Frau Dr. Lachenmeir. In diesem fände eine ausführliche Aufklärung über das Krankheitsbild und eine Reflexion der eigenen Helferrolle statt, die sich den folgenden Fragen widme: Wie erlebe ich mich im Umgang mit der/dem Betroffene:n? Was sind meine Ängste und Sorgen? Was ist eine gute Hilfe, die ich den Betroffenen anbieten kann? Bei älteren Patient:innen setzt das TCE auf ein höheres Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Umso wichtiger sei es nach Einschätzung von Frau Dr. Lachenmeir, dass Angehörige ihnen wohlwollend und ermutigend zur Seite stehen. Sie könnten die Betroffenen darin unterstützen, eigene Lösungen zu finden, und gegebenenfalls ansprechen, wenn ihnen etwas Sorgen bereite; die Verantwortung sollte jedoch bei den älteren Patient:innen gelassen werden. „Hier geht es eher darum, selbst Ruhe zu bewahren, sich um sich selbst zu sorgen, denn eine Essstörung im Genesungsprozess zu begleiten ist ein Langstreckenlauf.” Es sei leider nicht so, dass jemand in Therapie gehe und dann alles wieder gut sei, so Frau Lachenmeir, der Heilungsprozess einer Essstörung gehe über Jahre und sei manchmal auch geprägt von Rückschlägen. Häufig käme es später beispielsweise aufgrund akuter Belastungen noch einmal zu einem Rückschritt. „Gerade dann ist es wichtig, dass die Angehörigen ruhig und ermutigend begleiten können und das können sie wiederum nur, wenn sie auch gut auf sich selbst achten“, betont die Expertin. Gerade deswegen sei es wichtig, den Angehörigen ein gutes Verständnis für das Störungsbild zu vermitteln.


Zur Website des TCE: http://www.tce-essstoerungen.de/

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